So funktioniert der Lotus-Effekt

10.03.2020

Was wäre, wenn Staub, Schmutz und Flüssigkeiten an Oberflächen einfach nicht haften blieben? Dr.-Ing. Ingo Rechenberg, Professor des Fachgebietes Bionik und Evolutionstechnik an der Technischen Universität zu Berlin, erklärt uns am Beispiel des Lotus-Blattes, wie es uns die Natur vormacht.

Guten Tag, Herr Professor Dr. Rechenberg. Würden Sie uns als Experte kurz erklären, wie genau der Lotus-Effekt funktioniert?

Alle Flüssigkeiten sind bestrebt, das kleinstmögliche Volumen, also die Form einer Kugel, anzunehmen. Die dabei wirkenden Kräfte werden als Oberflächenspannung der Flüssigkeit bezeichnet. Treffen Tropfen der Flüssigkeit auf die Oberfläche der Lotus-Blätter, so bewirken die Anziehungskräfte, dass die Flüssigkeit an der jeweiligen Oberfläche haftet. Dabei gibt es Oberflächen, die Wassermoleküle stark anziehen – auch hydrophile Oberflächen genannt – und welche, die das Wasser abstoßen (hydrophobe Oberflächen). Die beschriebene Anziehungskraft wird durch unzählige Noppen der Blattstruktur der Lotus-Pflanze vermindert.

Ein Wassertropfen liegt dadurch auf den Spitzen dieser Erhebungen, wie ein Fakir auf einem Nagelbrett. Zwischen den einzelnen Erhebungen ist Luft. Dadurch wird ein Wassertropfen von der Oberfläche noch weniger angezogen, liegt nur mit kleinster Fläche auf, fließt schnell ab und bildet wegen der Oberflächenspannung ein kleines Kügelchen. Der Tropfen zerfließt nicht! Durch die Noppenstruktur liegen auch die Schmutzteilchen nur mit kleinster Fläche auf, die Anziehungskräfte zwischen Schmutz und Blatt sind daher äußerst gering, das heißt: auch hydrophober Schmutz haftet nicht auf der Blattoberfläche und kann von dem abfließenden Wasser mittransportiert werden – das Blatt ist immer sauber.

Gibt es noch andere Pflanzen, die diese Eigenschaften aufweisen?

Neben der Lotus-Pflanze zeigt auch zum Beispiel Kohlrabi den Effekt der Selbstreinigung. Spätestens bei einem Spaziergang am frühen Morgen durch den Wald können Sie beobachten, wie sich Tau an den Blättern verschiedener Pflanzen absetzt. In diesem Fall sind die Wassertropfen bereits zu einer Kugel geformt. Sobald das Blatt schräg steht, perlen die Tropfen ab. Und auch im Tierreich gibt es diesen Effekt: Als eines der zahlreichen Bespiele wäre hier das Federkleid von Vögeln zu nennen.

Übertragen auf die Technik ­– Wo sehen Sie Möglichkeiten und Grenzen des Lotus-Effekts?

Ideal für die Lotus-Technologie sind Oberflächen, die Regen ausgesetzt sind. Hier tritt die Selbstreinigung wie beim natürlichen Vorbild problemlos ein. Anwendung findet der Lotus-Effekt zum Beispiel bei Wandfarbe. Aber – und dessen sollte man sich bewusst sein – die Wirksamkeit des Lotus-Effekts ist nicht von unendlicher Dauer. Der Selbstreinigungseffekt funktioniert gegebenenfalls nur über einen gewissen Zeitraum. Auch die Automobilindustrie bietet dem Lotus-Effekt beispielsweise bei Lacken oder der Autowäsche ein großes Anwendungsfeld. Aber auch hier darf man nicht vergessen, diesen Effekt immer wieder zu erneuern – so wie es die Lotus-Pflanze vorgibt. In diesem Kontext sehe ich vor allem im Insektenflug ein großes Problem. Durch den Aufprall von Käfern oder Mücken wird die Oberflächenstruktur und somit der Lotus-Effekt sukzessive zerstört.

Herr Professor Dr. Rechenberg, würden Sie uns abschließend noch einen Ausblick geben, was zukünftig mit dem Lotus-Effekt noch möglich sein wird?

Als Bioniker beobachte ich lediglich die Perfektion der Natur – welche Leistungen sie hervorbringt – und bin gewillt, diese in Zusammenarbeit mit ausgezeichneten Ingenieuren technisch nachzubilden. Nur das Zusammenwirken von Biologie und Technik hat dem Menschen Fortschritt gebracht. Meist steht die Beobachtung in der Biologie im Vordergrund. Wenn die Technik ihren Teil beiträgt, dann kommt es zu „Explosionen“ – so wie es im Fall der Lotus-Pflanze war.

Vielen Dank Herr Professor Dr. Rechenberg für die lehrreiche Erläuterung des Lotus-Effekts und die Begründung dessen, warum es so wichtig ist, ihn immer wieder zu erneuern.